Goethes kaputter Pulverturm

Goethes kaputter Pulverturm


Heidelberg, 28.12.2024. Es gibt gewisse Parallelen zwischen Russlands Putin der Gegenwart und dem Absolutisten Ludwig XIV. im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Nicht nur das Übermaß an Protz und Prunk (Kreml, Versailles) ist vergleichbar, zu dem alle Diktatoren neigen. Wie Putin erhob der Sonnenkönig in einer späteren Phase seiner Regentschaft territoriale Ansprüche gegenüber Nachbarländern, unter fadenscheinigen Begründungen und Vorwänden. Er strebte eine „Wieder­ver­eini­gung“ (Reunion) mit Gebieten an, auf die Frankreich angeblich natür­lichen Anspruch habe, und begrün­dete dies zunächst juri­stisch (durch von ihm selbst eingesetzte Gerichte), dann folgte Gewalt. Mit teuren Feldzügen in die deutschen Lande und nach Spanien und Holland ruinierte er ab 1667 – nach einer ökono­mischen und kultu­rellen Blüte­phase – sein Land zunehmend, am Ende war Frank­reich hoch verschuldet und stand 1713 kurz vor einem Staats­bankrott [1].

1886 konzen­trierte Ludwig XIV. Truppen am Rhein und griff hier und da an. Darauf­hin bildete sich die Augsburger Allianz als Verteidigungs­bündnis. Wie durch Putin und seine Jünger heute hin­sichtlich der NATO wurde genau dieser Defensiv­charakter durch Ludwig bestritten; er nannte die angeblich von dem Bündnis aus­gehende Gefahr einen Kriegs­grund. Verschie­dene diplo­matische Be­mühungen und der Regens­burger Still­stand (vergleichbar mit dem Minsker Abkommen) hatten keinen Erfolg.

1688 griffen die franzö­sischen Truppen mit einer nur 40.000 Mann starken Truppe Straßburg und linksrheinisches Gebiet an, Ludwig XIV. hoffte auf einen kurzen Feldzug, sozusagen eine „Spezial­ope­ration“ wie schon bei den Annektionen im Rahmen der „Reunion“ zuvor (vergleichbar etwa der Krim-Besetzung). Er ging davon aus, dass das „Heilige Römische Reich“ mit der Verteidigung gegen die Türken an der „Südost­front“ genug zu tun hätte [2]. Die französischen Soldaten verwüsteten weite Gebiete, die Angriffe reichten bis Mannheim, Frankenthal, Mainz, Heidelberg und bis Ulm. Der französische König wollte mit den Zerstörungen, die vor allem die Zivilbevölkerung trafen, die deutschen Fürsten zwingen, seine Bedingungen zu akzeptieren. Aber langsam formierte sich Widerstand und aus der Spezialoperation wurde ein jahrelanger Krieg [3].

Entscheidend war die Unterstützung der Augsburger Allianz durch Wilhelm III. von England (hinsichtlich der Ukraine heute vergleichbar dem Einfluss der USA). Es gelang zunächst, die Truppen Ludwig XIV. zurückzudrängen, die französischen Truppen hinterließen mit dem Schlachtruf „Brûlez le Patinat!“ (Verbrennt die Pfalz!) „verbrannte Erde“ [4]. Doch erst am 30. Oktober 1697 wurde der Krieg – nach 9 Jahren! – mit dem Frieden von Rijswijk beendet [5]. Die Zerstörungen legten die Grundlage für die deutsche Franzosenfeindlichkeit, die von Napoleon später noch vertieft wurde. Die Heidelberger Ruine galt im 19. Jahrhundert denn auch als „nationales Mahnmal“. Der Historiker Hellmut Diwald nennt sie „ein Wahrzeichen für den Stumpfsinn der Zerstörung um der bloßen Vernichtung willen“ [6]. Passen­der­wei­se wurde das Schloss ange­sichts der russi­schen Ukraine-Invasion übri­gens vom 4. bis zum 6. März 2022 in gelb und blau ange­strahlt.

Heidelberg war – nach den Attacken von 1688 – im Jahr 1693 ein weiteres Mal von französischen Truppen angegriffen, besetzt und komplett verwüstet worden. Bei der ersten Besetzung wurde das Heidelberger Schloss „nur“ in Brand gesetzt, jetzt aber wollte man es völlig zerstören. Am 6. September zündeten Soldaten 38 Minen, geladen mit 27.000 Pfund Pulver, sprengten Mauern und Türme. Besonders im Fokus stand der „Krautturm“ [7], in dem die Verteidiger ihr Pulver gelagert hatten. Die Wucht der Explosion sprengte die 6,50 Meter starke Mauer des Turms. Ein französischer Kommandant berichtete: „Die Hälfte des Turmes und die Traverse sind in den Graben gestürzt. Die Gewölbe sind zerstört“ [8]. Das Heidel­ber­ger Schloss blieb unbe­wohn­bar, es en­tsprach ohnehin nicht mehr dem barocken Zeit­ge­schmack. Pläne, die Resi­denz im heutigen Stadt­teil Berg­heim zu bauen, scheiter­ten am Wider­stand der Heidel­berger Bürger­schaft. Dennoch wurde not­dürftig instand gesetzt, aber nach einem verhee­renden Blitz­schlag am 24. Juni 1764 gab man auf. Übrig blieb eine Ruine, die Goethe faszi­nierte und den roman­tischen Zeit­geschmack beflü­gelte [9]. Diese Leiden­schaft für das Mor­bide, die Ästheti­sierung des Kaputten, mag uns heute selt­sam er­scheinen, am ehesten noch ver­gleichbar dem Hype um „Lost Places“. Aber würde man z.B. das Stahl­werk von Mariupol irgend­wann zum Kunst­motiv verklären?

Stadt und Schloss wurden um 1800 jedenfalls zum Inbe­griff roman­tischer Stimmung, die Ruine machte nach­haltigen Ein­druck auf viele Maler und Dichter. William Turner hielt sich – wie viele andere Land­schafts­maler – zwischen 1817 und 1844 mehr­fach in Heidel­berg auf und fer­tigte et­liche Gemälde des Schlosses an. Dichter wie Clemens Brentano schwärmten von den Ruinen, der Kupfer­stecher Graf Charles de Graimberg doku­mentierte die Bauwerks­reste.

Johann Wolfgang von Goethe war insgesamt achtmal in Heidel­berg und bewunderte auch den gespreng­ten Pulver­turm. Mit dem Dichter geht es einem manchmal wie im Märchen von „Hase und Igel“: Egal, wo in Deutsch­land man hin­tritt, Goethe war schon da. Und hat es schon be­schrieben, ge­zeichnet oder bedichtet. Das erste Mal besuchte er die Stadt im Alter von (noch) 25 Jahren mit den Brüdern Graf Friedrich und Christian von Stolberg und dem Grafen Christian von Haugwitz im Jahr 1775, das letzte Mal 1815. Graf Friedrich von Stolberg schrieb in einem Brief: „Da ist ein alter, runder, hoher Thurm, der vom Blitz ge­spalten ist; die eine Hälfte liegt ge­sunken und die andere steht, das ist so male­risch, wie ich noch nie etwas gesehen habe“. Das mit dem Blitz war natür­lich Unsinn, dieser hatte die Ruine 11 Jahre zuvor in Brand gesetzt, der Turm aber war zu dem Zeitpunkt schon 80 Jahre lang zer­stört. Goethe kann jedenfalls mit seinen Reise­kum­panen als Ent­decker der Pulver­turm-Roman­tik gelten [10].

Über die „Schweizer Reisen“ Goethes ist in der Sekundär­literatur viel fabu­liert worden, man liest von Charakter­bildung und Er­ziehung des Weimarer Prinzen. Tat­säch­lich waren aber oft Freunde und Frauen der Anlass, mit­unter auch die Frauen der Freunde [11]. Und natür­lich standen Sehens­würdig­keiten auf dem Pro­gramm. Der interes­santeste Besuch in Heidel­berg war wohl sein vierter im Jahr 1779, bei dem am 23. September auch die Zeich­nung des Turms entstand (Abb. 4). Goethe wurde vom späteren Herzog Carl August von Weimar begleitet, Ziel war die Schweiz. Goethe und sein Prinz ver­brachten den ganzen Nach­mittag auf dem Schloss. Der an­gehende Herzog Karl August „kroch in den alten schönen Trümmern herum“ [12].

Heidel­berg ge­denkt Goethe in besonderer Weise. Da gibt es seit 1922 die Goethe-Marianne-Bank am Rand der Haupt­terrasse, die an die Affäre Goethes mit Marianne von Willemer er­innert. Da­neben steht seit 1987 ein zwei Meter hohes Goethe­denkmal mit einem bronzenen Kopf des Dichters. Ferner gibt es eine Gedenk­tafel in Heidel­berg-Kirch­heim, Oberdorf­straße 1 (ehemaliges ev. Pfarrhaus), wo Goethe 1815 in Beglei­tung der Brüder Boisserée und der Familie Daub Pfarrer Johann Conrad Maurer besuchte. Und in der Haupt­straße 207-209, wo Goethe als Gast der Brüder Boisserée vom 24. September bis zum 9. October 1814 und vom 21. September bis zum 7. October 1815 gewohnt hat [13].

9 Aufrufe – 11.03.2025

Literatur & Medien

(WB) Wolfgang Boehler (Hrsg.): Goethe-Besuche in Heidelberg. Edition Europäischer Kulturstätten, 2. Auflage 1966. Ohne ISBN.

(HD) Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. ISBN: 3 549 05801 2.


Fußnoten

[1] de.wikipedia.org: Ludwig XIV., Überblick. 

[2] Ludwig XIV. scheint den türkischen Großwesir Ahmed Köprülü ermutigt zu haben – (HD), S. 516. 

[3] de.wikipedia.org: Pfälzischer Erbfolgekrieg, Verheerung der Pfalz und der Nachbarregionen. schloss-heidelberg.de: Der pfälzische Erbfolgekrieg

[4] schloss-heidelberg.de: Der pfälzische Erbfolgekrieg. „Ihrem Rückzug verliehen sie durch die neuartige Praxis willkürlicher und völlig unnötiger Verwüstung, durch methodisches Niederbrennen möglichst vieler Städte und Dörfer einen gänzlich negativen, aber unvergänglichen Ruf“. In dem Krieg wurden mehr als 100 Städte und über 1.000 Dörfer „vom Erdboden rasiert“ – (HD), S. 516. Auch dies erinnert an das russische Vorgehen in der Ukraine und speziell an die Kriegsverbrechen in Butscha

[5] de.wikipedia.org: Pfälzischer Erbfolgekrieg, Zeittafel. 

[6] (HD), S. 516. 

[7] Im Untergeschoss wurde das „Kraut“ gelagert, das Schießpulver. 

[8] Bei der Sprengung erwies sich das Fugenmaterial als widerstandsfähiger als der Rotsandstein, aus dem der Turm gemauert war. Der Turm hatte ursprünglich eine Höhe von etwas 28 Meter. 1610 wurde er auf 42,50 Meter ausgebaut. Heute ragt er als Ruine immerhin noch 33 Meter hoch – rlp.museum-digital.de: Der gesprengte Turm des Heidelberger Schlosses (Krautturm); schloss-heidelberg.de: Der Ludwigsbau; schloss-heidelberg.de: Der Pfälzische Erbfolgekrieg

[9] de.wikipedia.org: Heidelberger Schloss

[10] schloss-heidelberg.de: 17. Mai 1775: Johann Wolfgang Goethe lernt die Stadt und das Schloss kennen

[11] de.wikipedia.org: Marianne von Willemer

[12] s197410804.online.de: Heidelberger Geschichtsverein, de.wikipedia.org: Heidelberger_Schloss, Krautturm (Pulverturm, Gesprengter Turm). 

[13] s197410804.online.de: Heidelberger Geschichtsverein. Goethe besuchte die Gemäldesammlung der Brüder, die heute in der Münchner Pinakothek zu besichtigen ist – (WB), S. 5 und 16. 


Beitragsbild: Mirke, 2024.

23882.1   Pfaelz-Erbfolgekrieg-schadenskarte-1688-89, P. Schmelzle, Germany location map.svg: NordNordWest, Bearbeitung: Master Uegly, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons, 2.1.2025.  

23882.2   Unknown, Bearbeitung von terrae, Public Domain, via Wikimedia Commons, 7.1.2025.  

23882.3   Mirke, 2.1.2025.  

23882.4   Orte kultureller Erinnerung, Public Domain. Bearb. von Mirke (Beschnitt, Graustufen, Kontrast), 7.1.2025.  


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